Constructive Journalism als Konzept im redaktionellen Alltag

Fernsehbeiträge

Fernsehbeiträge für Magazine und Nachrichtensendungen

Seit Juli 2018 liefere ich als Reporterin im ZDF-Landesstudio Hessen Beiträge für Sendungen des ZDF. Dazu gehören die Formate heute, heute+, heute in Deutschland, hallo Deutschland, Mittagsmagazin, Morgenmagazin und Drehscheibe. In Absprache mit dem verantwortlichen Redakteur ziehe ich mit einem Kamerateam los und realisiere Themen vom Angebot bis zum fertigen Beitrag.

Ein Beispiel:

 

Constructive Journalism als besondere Herausforderung in Nachrichtensendungen

Die Redaktion von heute+ sendet ein Nachrichtenformat für eine junge Zielgruppe. Der Anspruch ist, den Nachrichtenmainstream kritisch zu hinterfragen und zudem neue überraschende Zugänge zu bieten. Die Redaktion stellt die Inhalte schon vor Ausstrahlung online – in den Sozialen Netzwerken und in der Mediathek. Damit will sie den Zuschauer frühzeitig einbinden. Elisa Luzius und ich wollen herausfinden, ob ein Constructive Journalism Ansatz im Alltagsgeschäft der Redaktion möglich ist. 11 Uhr Konferenz: Die Redakteure diskutieren die Themen, die es in die Sendung schaffen, sowie Umsetzungsideen: Steinmeier for president – die Koalition einigt sich auf Kandidaten; Globalisierung für alle – Wie es besser geht; Rapper rappt Philosophen – Samy Deluxe trifft Leibniz. Und: Lehrer sehen sich zunehmend als Opfer von Schülergewalt. Gewalt als negatives Bild im Beitrag oder nur als Aufhänger? Das Thema scheint uns am ehesten geeignet, um parallel zur Redaktion zu recherchieren und den Ansatz von Constructive Journalism zu verfolgen.

 

Recherche: Wo gibt es Schulen, die das Problem „Gewalt gegen Lehrer“ erfolgreich überwunden haben?

Wir setzen uns sofort an den Rechner – aber: das Login fehlt und wir haben keinen Handyempfang auf dem Lerchenberg in Mainz. Ein Redakteur checkt die Lage, bevor wir uns über einen Gastzugang einloggen können. Mittlerweile ist es 12:30 Uhr. Nicht mehr lange, bis die Schüler aus der Schule zum Bus rennen. Wir müssen also besonders schnell sein. Über erste Anlaufstellen wie Lehrergewerkschaften, dem Landesinstitut für Bildung und Erziehung und der Landesinitiative für Bildung e.V. stoßen wir auf den Schulpreis „Starke Schule“. Inzwischen haben wir auch mit vielen Schulen telefoniert, die entweder zu früh enden oder keine Dreherlaubnis für ihre Schüler haben. Zweitplatzierter im Wettbewerb ist eine Schule in Mannheim, die Siegerschule liegt in Nohfelden-Türkismühle im Saarland. Nachdem Mannheim uns absagt, packen wir unsere Sachen und sprinten los.

 

Produktion: Zu spät für die Schule

    Vor Ort drehen wir zuerst Außenbilder, denn die Sonne ist nicht mehr lange am Himmel. Danach schnell zur Rektorin – die hat Kinder aus der Nachmittagsbetreuung gefragt, ob sie Lust haben, mit uns zu reden. Auch einen Lehrer hat sie angefragt. Perfekt! Denn nur so bilden wir wirklich die Betroffenen ab. Nach und nach filmen wir alles, was wir brauchen. Es ist bereits 18 Uhr. Für eine regionale Nachrichtensendung käme das Material zu spät. Zum Glück sendet heute+ erst nach Mitternacht. Während ich das Auto zurückfahre, sitzt Elisa am Laptop und kümmert sich schon um den Rohschnitt. Beratung über den roten Faden bei 130 Stundenkilometern.   Zurück in der Redaktion finden wir einen Einzelkämpfer vor: den Spätredakteur. Er nimmt sich Zeit und gibt uns Tipps. Mit dem Laptop im Gepäck fahren wir in unsere Ferienwohnung und arbeiten am Feinschnitt. Mit einem Cutter hätte es vielleicht geklappt bis Mitternacht – wir bringen den Beitrag erst am nächsten Morgen mit in die Redaktion.

 

Fertiger Beitrag: Wird er so abgenommen?

Nach der Konferenz um 11 Uhr schaut derselbe Redakteur vom Vorabend den Beitrag mit uns an. Er schaut kritisch und wir befürchten, dass unser Beitrag nicht gesendet wird. Aber dann sagt er nach 30 Sekunden Stille: „Noch bin ich da“ – ein Hoffnungsschimmer! „Ich bin immer noch da!“ Yes! Am Ende ruft er „Wow!“. Offenbar hat er nach dem Rohschnitt nicht so viel erwartet. Aber er wusste auch nicht, wie viel wir noch investiert haben und wie lange wir mit dem Material zusammensaßen und gearbeitet haben. Nur so viel: es war eine lange Nacht. Ändern müssen wir nichts mehr – es fehlen nur noch die Grafiken und Bauchbinden. Außerdem muss die Datei von unserem Laptop noch irgendwie ins ZDF-System eingespielt werden. Nach Virencheck, Bestellung der Dateikopie ins System und Bestellung der Grafiken sitzen wir zu dritt beim Cutter. Der passt noch die Lautstärke an, packt Bauchbinden drauf sowie die Grafiken. Jetzt ist es 16:45 Uhr und der Beitrag offiziell „fertig“.

 

Der Vergleich – Nachrichtenmeldung vs. Constructive Journalism

„Gewalt – genau das hat diese Grundschullehrerin im Klassenzimmer erlebt.“ – Eine Betroffene von Gewalt erzählt vom Angriff eines Vaters. Ein Experte, Justiziar des Verbandes Bildung und Erziehung in Nordrhein-Westfalen, ordnet ein. Die nächste Message: Gewalt sei hauptsächlich ein Problem an Grund-, Haupt-, Gesamt- und Förderschulen. Der Experte erklärt die Arten von Gewalt. Dann die Statistik: – 59% der Lehrer sagen, Gewalt gegen sie habe zugenommen. – 77 % beklagen, Cybermobbing nimmt zu. – Jeder Fünfte weiß von körperlichen Übergriffen an seiner Schule – Mehr als ein Drittel der Lehrer gibt an, Vorfälle nicht zu melden Fazit: Gewalt gegen Lehrer ist ein Tabuthema. Darüber spricht der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung. Problem: „Fast jeder vierte Lehrer: Opfer von physischer Gewalt.“ Eine Schülerin erklärt, sie habe das von anderen Schulen schon gehört, aber an ihrer Schule sei so etwas noch nie vorgekommen. Wir schauen, was an dieser Schule gut läuft und was die anders machen: Probleme antizipieren, mit dem Fokus auf gute Kommunikation, klare Grenzen setzen und eine mitreißende Schulkultur schaffen. Sicher nur eine Lösungsmöglichkeit von vielen, nicht anwendbar auf alle Schulen. Um ein allumfassendes Bild zu vermitteln, reicht die Beitragszeit nicht. Aber keine Eliteschule als Beispiel, auch kein Gymnasium, sondern eine Gemeinschaftsschule auf dem Land mit einer heterogenen Schülerschaft. Aus den Reaktionen von Zuschauern schließen wir, dass der Beitrag bei ihnen ein gutes Gefühl hinterlässt.
Kommentar: „Sprecht mit den Lehrern und nicht mit der Kriminalstatistik!“ Kommentar: „Gutmenschen-Beitrag, der die wahren Probleme ignoriert.“
Hauptaussage: „Arme Lehrer, es wird immer schlimmer.“ Zwei Experten und eine betroffene Lehrerin kommen zu Wort. Hauptaussage: „Es gibt eine Chance, das Ganze zu lösen.“ Schüler, Lehrer, Rektorin kommen zu Wort.

Eine Lehrerin, die Gewalt erlebt hat gegen eine Schülerin, die in einem super Schulklima gern zur Schule geht. Wir finden den Constructive Journalism Ansatz trotz Kritik gut, weil er den Leuten mehr mitgibt: den Hintergrund und darüber hinaus auch eine Perspektive: „Was nun?!“

 

Fazit: Im tagesaktuellen ist Constructive Journalism eine echte Herausforderung

Wir haben es geschafft: wir haben in kurzer Zeit eine Schule gefunden, die Lösungsvorschläge für das Problem Gewalt an Lehrern hat. Wir haben alles gedreht und den Rohschnitt gemacht. Aber die schönsten Bilder haben wir nicht bekommen – ohne Licht und in einem fast leeren Schulhaus. Um Schulleben zu zeigen, mussten wir auf ein Archivbild zurück greifen. Wir finden deshalb, im aktuellen Tagesgeschäft ist Constructive Journalism eine besonders große Herausforderung, der ich im Alltag mit Freude und großer Motivation begegne!

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18 Monate war ich ein Volo-Schwamm, habe alles aufgesaugt, was möglich ist: Drehen mit 360 Grad-Kamera, verschlüsselt Mails schreiben, berichten aus dem ARD-Hauptstadtstudio und dem Korribüro in Johannesburg, Challenge mit Heute Plus Redakteuren um konstruktiven Journalismus, Diskussionen mit Journalisten, Politikern und Militär in Israel und Palästina, Liveschalten, Fotoserien, VJ-Drehs, ... Um nur auf ein paar Wochen zurückzublicken. Es war eine anstrengende, aber sehr spannende und prägende Zeit, für die ich sehr dankbar bin. Das passt im Alltag eh nicht alles unter einen Hut?
Ich hab nen Sombrero!

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